Corona 6
Die neue Unübersichtlichkeit
Die Viruspandemie ist zu einer Corona-Krise geworden. Einer Krise ist eigen, dass es kein uniformes Bewältigungsverhalten gibt und der Ausgang offen ist.
Die Viruspandemie ist zu einer Corona-Krise geworden. Einer Krise ist eigen, dass es kein uniformes Bewältigungsver-halten gibt und der Ausgang offen ist. Die vertretenen und geäusserten Per-spektiven zur aktuellen Krisensituation sind vielfältig, widersprüchlich und im-mer wieder überraschend. Die Krise deckt sensible Strukturen, Haltungen und Verhaltensweisen auf allen gesell-schaftlichen Ebenen auf.
Wir erleben in Medizin, Politik, Wirt-schaft und Recht mit dem Virus konfron-tierte Institutionen. Gesellschaftlich wird die krisenhafte Entwicklung unterschied-lich aufgefasst und von jedem von uns auf die eine oder andere Art eingeordnet werden. Fast wollte ich schreiben, dass niemand mehr von einer harmlosen Vi-rusepidemie spricht, wie dies noch bei den ersten Medienberichten Ende Januar und im Februar der Fall war. Ein kritisch-rationales, aufklärerisches Weltbild ist aber nicht die einzige Sichtweise auf diese Krise. Wir erfahren von Infodemie – nach dem Generalsekretär der WHO sind damit schädliche Effekte vielfach ver-breiteter Falschnachrichten gemeint. Und es sind nicht nur einige wenige ver-irrte und verwirrte Stellungnahmen, sondern Falschinformation hat mitunter Methode. Eine Journalismus-Studie1 zeigte, dass nur ein Teil der Falschinfor-mationen völlig erfunden ist, während vorhandene Informationen meist fehl-interpretiert, verzerrt oder in einem an-deren Kontext dargestellt werden. Hier-bei gibt es absurde und lebensgefährliche Behauptungen – uns allen vorgeführt von Donald Trump mit seiner Empfeh-lung an Wissenschaftler, die Injektion von Desinfektionsmittel zu prüfen. Bedeut samer sind jedoch falsche Behauptungen über die Arbeit von Institutionen und Regierungen, die mitunter den Nähr-boden für Verschwörungstheorien ab-geben.
Der Mensch reagiert also nicht als epi-demiologischer Experte, noch lässt er sich vollständig auf politisch motivierte Handlungsanweisungen ein. Neben den verschwörungstheoretisch motivierten, irrationalen Ängsten kommt aber auch eine ganze Bandbreite individueller, zum Teil auch widerständiger Reaktions-weisen zum Vorschein, die auf einen schützenswerten Wertepluralismus hin-weisen. Die provokanten Notizen2 im Feuilleton der NZZ von Urs Scherrer, Prof. emeritus der Universität Lausanne, sind ein Beispiel hierfür. Auch wenn man sei-nen Ansichten nicht folgt, verweist er mit seinen Wertaussagen auf schwierig zu regulierende Herausforderungen. Wie weit darf und soll der Staat gehen, um vulnerable Gruppen zu schützen, und inwieweit muss der Einzelne für sein Ver-halten Verantwortung übernehmen? Das Argument, dass die Freiheit des Einzelnen nur so weit gehen darf, bis die Freiheit anderer beeinträchtigt wird, ist unter den Bedingungen einer Pandemie be-sonders schwierig zu bewerten. R-Wert, Fallzahlen und der Umgang mit Selbst-isolation sind komplex interagierende Faktoren, die nur schlecht individuell ein-geschätzt werden können. Und gleich-zeitig kann der Staat diese Bewertung auch nicht zwingend besser vornehmen. Sicherlich hat durch die Kommunikation der Behörden, aber auch durch die Me-dien selbst eine ausgeprägte Emotionali-sierung des Themas stattgefunden. Bil-der von Intensivstationen mit auf dem Bauch gelagerten und beatmeten Pati-enten wurden hierfür systematisch ein-gesetzt.
Als informierte Bürger haben wir mittler-weile gelernt, die grundlegenden epide-miologischen und virologischen Aspekte etwas einzuordnen. Wir lernen einen Umgang mit dem Virus. Wir verlassen uns auf die Massnahmen, die vom Bund empfohlen und verordnet werden. Und dennoch bleiben Unsicherheiten und er-hebliche Zweifel. Die grosse Anzahl der Lebensbereiche, die durch die Pandemie beeinträchtigt sind, ist beeindruckend und verhindert eine Übersicht. Die Kom-plexität der Situation und die Geschwin-digkeit der Entwicklung tragen dazu bei, dass es enorm schwierig ist, die Situation adäquat zu beurteilen. Im Rückblick wird deutlich, wie sich die Einschätzungen von Fachexperten und Politik in kurzer Zeit wieder wandelten. Dazu kommt, dass eine inhomogene Risikoverteilung auf lokaler, nationaler und internationa-ler Ebene eine unité de doctrine verun-möglicht. In einer solchen Situation be-trachten wir wahrscheinlich erst etwas eingeengt unsere eigene Lage, ähnlich wie das die Staaten mit den Grenzschlies-sungen getan haben, und erreichen erst im Verlauf ein koordinierteres Vorgehen. Wir sind hier an die Grenzen der Erkennt-nis und ihrer Kommunikation gekom-men.
Auch wenn ich nicht zur Risikogruppe gehöre, kenne ich doch etliche Menschen, u.a. unter meinen Patientinnen und Pati-enten, die dazugehören. Mitunter wird die Pandemie nicht nur als Infektions-risiko wahrgenommen, sondern als mas-sive Zäsur. Es besteht eine grosse Un-sicherheit über den weiteren Verlauf. Kommt eine Zweite Welle? Retrospektiv erkannte Fehler in der Vergangenheit tragen zur Verunsicherung bei. Obwohl es Pandemiepläne gab, hat nicht nur die Schweiz, sondern haben auch andere Länder mit ausgebautem Gesundheits-system diese Pläne unzureichend berück-sichtigt. Welche Fehler leisten wir uns heute, welche morgen? Braucht es wirk-lich ein Gesetz zum Start der Tracing-App, wenn dadurch erneut Zeit vergeht und das Risiko für eine negative Entwick-lung erneut steigt? Welche Folgen hat die Ausgabe der Staatsgelder, die jetzt verteilt werden, für die Zukunft und die nächste Generation? Werden Sie ver-nünftig verteilt? Und: Können wir von der aktuellen Krise für zukünftige Ereig-nisse ausreichend lernen?
Mein Unbehagen als Fachperson bezieht sich auf die möglichen langfristigen Folgen der Pandemie. Für den Bereich der psychischen Gesundheit gibt es Hin-weise, dass das Social Distancing mit Massnahmen von Isolation und Quaran-täne besonders bei vulnerablen Gruppen negative und langanhaltende Effekte haben kann.3 Schon jetzt zeigen sich im Bereich der beruflichen Reintegration naturgemäss Schwierigkeiten. Entspre-chende Programme und Massnahmen waren zum Teil gar nicht oder nur ein-geschränkt durchführbar. Die prekäre Arbeitsmarktsituation stellt gerade die Patientinnen und Patienten vor erheb-liche Schwierigkeiten, die Probleme am Arbeitsplatz oder Kündigungen erlebt haben. Es ist anzunehmen, dass der sozi-ale Gradient mit negativen Auswirkun-gen auf die Gesundheit unter den Bedin-gungen der Pandemie akzentuiert wird. Wir können auch darauf hoffen, dass es nicht so schlimm kommt, wie die Erfah-rungen mit der Spanischen Grippe vor 100 Jahren (2. Welle) oder heute auch manche Modellierer zeigen. Die aktuelle Unübersichtlichkeit verlangt jedenfalls nach Aufklärung: vernünftige, nachvoll-ziehbare Informationsvermittlung, Er-kennen von Täuschung sowie Manipula-tion und Offenheit für neue Erkenntnisse. Eine besondere Herausforderung für eine offene Gesellschaft stellt dabei die von uns allen zu leistende Integration unterschiedlicher Perspektiven dar.