Corona 5
Erstmals Vertrauens- statt Misstrauenskultur
Viele Gedanken gingen mir in den letzten Wochen durch den Kopf.
Viele Gedanken gingen mir in den letzten Wochen durch den Kopf. Ein neues Virus lässt uns demütig werden. Auch wenn vieles anders und besser ist als zu Zeiten der Spanischen Grippe, zeigen sich doch inhärente Muster einer Pande-mie. Zur Gewinnung neuer Erkenntnisse zu Covid-19 zeigt sich, dass Autopsien un-verzichtbar sind trotz des Vordringens in den Nano-Bereich. Es werden Erinnerun-gen wach an die Zeit und die Stimmung, die herrschten, als HIV aufkam und wir als Medizinstudenten während der Vorlesungen Sonderinformationen vom Kantonsarzt erhielten. Damals waren sowohl die hierarchische Position des Kantonsarztes als auch die Ressourcen im kantonsärztlichen Dienst in einigen Kantonen besser ausgestattet als heute. Aus Public-Health-Sicht wirft das Fragen auf, insbesondere, wenn mehrere Kan-tonsärzte die Stelle während der Pande-mie künden. Ähnliche Fragen stellen sich auf Bundesebene beim BAG hinsichtlich medizinischer (ärztlicher) Berufserfah-rung und Fachwissen aus dem Public- Health-Bereich auf den oberen Hier-archiestufen. Zur Verantwortung des EDI in dieser Hinsicht hat sich Rudolf Strahm deutlich im Tages-Anzeiger geäussert.
Gelingt es uns trotz Ökonomie und Poli-tik, die Pandemie zu meistern, oder mit Ökonomie und Politik? Geisteswissen-schaften sind neben Naturwissenschaf-ten kein Luxus: Es gilt, psychologische und soziale Phänomene, ja, die Sprache zu beachten: Wie lange wird noch, richti-gerweise, auf die Epidemiologen, wie lange auf die Kliniker gehört? Es zeigt sich, dass schon einige Leute Mühe haben, nicht mehr den Ton angeben zu können. Würden diese notfalls auch über Leichen gehen? Im Lockdown gab es Zeit zur Reflexion und zum Innehalten. Im Alltag kam es zu weniger Konsum. Viele waren weniger im Hamsterrad. Andere waren sehr gefordert durch Kombination von Homeoffice und Homeschooling. Gewisse Freiheiten sind eingeschränkt, dafür gewann man andere Freiräume. Wie sieht es mit dem solidarischen Tra-gen der wirtschaftlichen Folgen von Co-vid-19 aus? Wer soll die diesbezüglichen Kosten im Gesundheitswesen bezahlen: Steuerzahler oder Prämienzahler, Kan-tone oder Krankenversicherer? Diverse Interessengruppen sind bereits wieder am Werk, und diesen geht es weder um die Patientinnen und Patienten noch um die Pflegenden, die Ärztinnen und Ärzte, die Medizinischen Praxisassistentinnen, noch um alle weiteren Berufe, die sich im Gesundheitswesen engagieren. Es geht um Ideologie, um Ideen und nicht um Menschen: mehr Staat oder weniger Staat? Dabei ist festzuhalten, dass unser Gesundheitswesen, auch dank richtiger Entscheidungen (Absage aller Grossver-anstaltungen, basale Hygiene-Mass-nahmen, Abstand halten), in der ersten Welle seine Leistungsfähigkeit gezeigt hat. Allerdings bedurfte es hinter den Ku-lissen ziemlich grossen Drucks von epide-miologischer und medizinischer Seite. Während der Pandemie hat erstmals, so-weit ich mich im Rückblick auf 30 Jahre Berufstätigkeit erinnern kann, eine gute Zusammenarbeit in einer neuen Quali-tät auf kantonaler Ebene zwischen den Berufsleuten an der Front und der kanto-nalen Verwaltung, inklusive der Exeku-tive, stattgefunden. Erstmals Vertrauens- statt Misstrauenskultur. Dies ermöglichte auch mir ein Durchhalten in der Praxis, auf kantonaler und nationaler Ebene, täglich, an 6 bis 7 Tagen: unzählige Telefo-nate, Fragen, Texte, Gespräche, Abklärun-gen zu Covid-19, seit Februar und inten-siv seit Anfang März. Dieses Vertrauen ermöglichte dank viel weniger Adminis-tration eine viel effizientere und schnel-lere Zusammenarbeit. Diese Art von Zu-sammenarbeit wünschen wir uns auch in Zukunft. Es gibt Personen auf nationa-ler Ebene, die nach Abflauen der ersten Welle wieder gegen die Medizinal- und Gesundheitsberufe arbeiten, deren Ruf gezielt schädigen. In anderen Ländern haben sich die fatalen Folgen einer sol-chen Politik gezeigt, wie sie gewisse Leute auch in der Schweiz angedacht haben und weiterhin andenken, in tausenden von Toten und einem überlas-teten, dekompensierten Gesundheits-wesen. Tragen wir Sorge zu unserem Gesundheitswesen. Tote brauchen keine Wirtschaft und keine Politik mehr. Pati-entinnen und Patienten, die durch Covid-19 bleibend gesundheitlich ge-schädigt sind, werden Ressourcen im Gesundheitswesen beanspruchen, auch wenn ihnen Zielvorgaben und ein Glo-balbudget diese verwehren. Es ist an der Zeit, schon vor einer zweiten Welle noch-mals nachzudenken und einiges zu über-denken.
Ich bedanke mich bei meinem Praxis-team für das grosse Engagement und bei meinen Patientinnen und Patienten für die vielen Zeichen der Wertschätzung in der nicht ganz einfachen Pandemie-Zeit.