Corona 3
Mein Corona-Puzzle
Schon im Februar war so viel über Corona zu hören und zu lesen, dass ich das Thema lästig fand, noch bevor es richtig begonnen hatte.
Schon im Februar war so viel über Corona zu hören und zu lesen, dass ich das Thema lästig fand, noch bevor es richtig begonnen hatte. Ich hoffte, die Sache würde sich von selbst erledigen. Dass dem nicht so war, wurde spätestens im März klar, als die Todesfall-Zahlen in Italien dramatisch anstiegen. Das neue Virus, eigentlich unsichtbar für unser Auge, «zierte» nun regelmässig in Gross-format die Frontseiten von Zeitungen und Magazinen. Es veränderte unseren Alltag grundlegend: Die Stadt war men-schenleer, die Autobahn nicht mehr verstopft, und etwas so Banales wie ein kaputter Kühlschrank wurde plötzlich zur Herausforderung. Überwachungs-Szenarien rückten in greifbare Nähe – das neue Corona-Virus als Wegbereiter von «Big Brother»? Innert weniger Wo-chen zerfiel das gewohnte Weltbild zu immer kleineren Bruchstücken, die sich nicht mehr zusammensetzen liessen, weil das Virus sie verändert hatte. Dafür erschienen Bruchstücke neuer Informa-tionen, auch sie veränderten sich stän-dig. Das tun sie bis heute und wollen doch zu einem neuen Bild zusammen-gefügt werden. Es ist ein Bild, zu dem die Vorlage fehlt: das Corona-Puzzle.
Das englische Wort to puzzle bedeutet «verwirren», und ein Verwirrspiel war und ist Corona auf allen Ebenen: Wir Ärzte sollen helfen und kennen nicht einmal die Eckdaten des neuen Virus; Politiker sollen Entscheidungen treffen, bevor das Corona-Virus epidemiologisch durchschaubar ist; die Wirtschaft soll sich neu organisieren ohne klare Zu-kunftsperspektiven. Und noch immer sind wir weit davon entfernt, das Puzzle zusammengesetzt zu haben. Zwar kommt Teilchen um Teilchen dazu, aber je mehr das Bild wächst, desto be-drückender wird es.
Ich möchte Sie, liebe Leserin, lieber Leser, teilhaben lassen an meiner persönlichen Version des Corona-Puzzles, mit allen Un-zulänglichkeiten und in aller Vorläufig-keit.
Die mühsame Suche nach Puzzle- Teilchen
Ein Puzzle lässt sich nur zusammen-setzen, wenn man die Teilchen hat. Beim Corona-Puzzle kann man diese nicht ein-fach aus der Kartonschachtel nehmen, man muss sie einzeln suchen gehen. Einige Informationsquellen waren von Anfang an klar: ich empfand es als Bürgerpflicht, keine Pressekonferenz zu ver-passen, auch die Rundmails der Ärztege-sellschaft rückten in der Prioritätenliste nach oben. Die Suche nach Information darüber hinaus war anspruchsvoll und bewegte sich irgendwo zwischen dem notorisch-nichtssagenden Mainstream und dem notorisch-nörgelnden Anti-Mainstream, wobei auch in diesem Fall die Extreme (wie so oft) nicht hilfreich sind. Aber schliesslich fand ich mehr und mehr Puzzle-Teilchen – das Zusammen-setzen konnte beginnen!
Puzzle-Teilchen-Serie-Nr. 1: Warum ist Corona so anders?
Schon bald war klar, dass das Virus hoch-ansteckend ist, die Epidemie sich also rasch ausbreiten würde. Dies ist an sich weder alarmierend noch ungewöhnlich, viele Epidemien verlaufen so. Alarmie-rend waren die schweren Krankheits-bilder mit der Notwendigkeit von Be-atmungsplätzen, und das in unbekannter Anzahl. Darum musste man alles daran setzen, die Ansteckungszahlen so gering wie möglich zu halten; dies wiederum führte zu erheblichen menschlichen und wirtschaftlichen Problemen. Diese ersten Puzzle-Teilchen waren nicht schwierig zu finden. – Ich lege sie vor mir auf den Tisch, und es fällt mir auf, dass sie alle eine un-gewohnte Form haben; ich ahne, dass hier etwas ganz Neues auf uns zukommt.
Puzzle-Teilchen-Serie-Nr. 2: Was ist sofort zu tun?
Aus ärztlicher Sicht: testen, isolieren, be-handeln, forschen. Das versuchen wir, so gut wir es können, stossen aber ringsum an Grenzen. Einen Impfstoff, der die Rettung der Wirtschaft wäre, scheint es noch länger nicht zu geben, die Antikör-pertests, welche den Handlungshorizont ebenfalls erweitern würden, sind selbst noch in der Testphase. Wir haben kein Medikament, das gezielt das Virus be-kämpfen würde. Die Risikogruppen müssen darum, so gut es geht, weiterhin isoliert bleiben und leiden zunehmend darunter. Aus allen bisherigen Puzzle-Teil-chen lässt sich nun ein Rand zusammen-setzen, der ziemlich düster aussieht. Ich wünschte, ich könnte einige farbenfrohe Teilchen anfügen, zum Beispiel ein «Anti-Corona-Medikament-» oder ein «Impf-Puzzle-Teilchen»; aber ich weiss: solche sind schlicht noch nicht vorhanden. Also suche ich weiter; vielleicht gibt es ja an-dere, vielversprechende Teilchen?
Puzzle-Teilchen-Serie-Nr. 3: D wie Denken
Was tun, wenn gesichertes Wissen rar ist? Wie eine Gleichung auflösen, die mehr Unbekannte hat als Bekannte? Zum Glück ist es nicht so, dass wir gar nichts wüssten: Denken bringt uns manchmal weiter als Studien. Es gab Hinweise darauf, dass das Virus deswe-gen so gefährlich ist, weil es in gewissen Situationen das Immunsystem fehlleitet, so dass die Entzündungsreaktion über-schiessend ist und körpereigenes Ge-webe angreift. Welche Voraussetzungen braucht das Immunsystem, um nicht zu entgleisen? Ein bekannter Schutz- und Regulationsfaktor ist Vitamin D. In Italien wurden die schlechtesten Vitamin-D-Spiegel von ganz Europa gemessen; Schweden und Finnland reichern seit einigen Jahren alle Milchprodukte mit Vitamin D an – beeinflusst das vielleicht den Verlauf von Covid-19 in diesen Län-dern? Dunkelhäutige Menschen in Amerika, weit weg vom Äquator, haben besonders tiefe Vitamin-D-Spiegel; sie erkranken und sterben viel häufiger an Covid-19 als Hellhäutige, und soziale Fak-toren allein können den riesigen Unter-schied nicht erklären. Warum geben ge-wisse Spitäler den Covid-19-Patienten bei Eintritt Vitamin D? Könnte Vitamin D vielleicht Leben retten? Ich weiss nicht, ob meine Überlegungen stimmen. Ich versuche dennoch, die gefundenen Puzzle-Teilchen einzufügen. Zu meiner Über-raschung passen sie alle. Durch sie wird das Bild deutlich freundlicher.
Puzzle-Teilchen-Serie-Nr. 4: Ein seltsamer «blinder Fleck»
Die Frage lässt mich nicht mehr los: Könnte es tatsächlich so einfach sein? Liesse sich mit simplem Vitamin-D-Er-satz die Zahl der schweren Erkrankungen eindämmen? Es ist bekannt, dass viele Menschen in Europa und Amerika zu wenig Vitamin D haben (auch wenn offi-zielle Stellen das z.T. anders beurteilen). Auf der andern Seite mehren sich die Hinweise von Tag zu Tag, dass genügend Vitamin D der Match-entscheidende Faktor bezüglich Covid-19 sein könnte. Mit Europa vergleichbare Länder der Südhalbkugel, die «aus dem Sommer kommen», scheint Covid-19 weniger schlimm zu treffen. Von fast 400 Ob-dachlosen in Boston, die wohl kaum einen besonders gesunden Lebensstil pflegen (können), aber Sommer und Winter draussen sind, hatte mehr als ein Drittel einen auf Corona positiven Ab-strich, und nur ein Einziger (!) hatte Symptome. – Mit solchem Hintergrund-wissen beginne ich, auf offiziellen Seiten von Gesundheitsämtern nach Empfeh-lungen für Vitamin-D-Ersatz zu suchen als Strategie gegen Covid-19. Ich finde nichts. Ich werde nervös, werfe einen Blick auf die unerbittlich tickende Pandemie-Uhr und auf die wachsenden Todesfall-Zahlen. Diese zusätzlichen «Vitamin-D»-Puzzle-Teilchen (der Schritt von der Erkenntnis zur Tat) wären so dringend nötig! Aber der Platz in meinem Puzzle, wo sie sein müssten, bleibt leer.
Puzzle-Teilchen-Serie-Nr. 5: Die Dorfbeiz «Corona»
Szenenwechsel. Der Stammtisch in der Dorfwirtschaft «Krone» (spasseshalber von den Einheimischen in «Corona» um-benannt) ist der beliebteste Treffpunkt im Dorf. Aber er ist seit Wochen verwaist, und das betagte Wirte-Ehepaar bangt um seine Existenz. An privaten «Stamm-tischen» (die nicht immer lupenrein sind gemäss BAG-Richtlinien) wird un-gebremst weiter politisiert. Die Wirt-schaftsprognosen der unverbesserlichen Optimisten schiessen in die Höhe mit teilweise wunderlichen Ideen; die eher pessimistisch Veranlagten sehen alles nur noch bachab gehen. Alle aber wün-schen sich, dass die Wirtschaft bald wieder in Schwung kommt – die «Krone» mit eingeschlossen. Obwohl diese Puzzle-Teilchen zuerst widersprüchlich erscheinen, greifen sie schön ineinander; es braucht sie wohl beide, die Optimisten und die Pessimisten, in dieser Krise! Nur bringe ich diese neuen Teilchen nicht zu-sammen mit den bisherigen; es klafft eine Lücke. Ob das wegen der Puzzle-Teilchen der 4. Serie ist, die noch immer fehlen?
Puzzle-Teilchen-Serie-Nr. 6: Big Brother Corona?
Erst kürzlich überreichte mir ein Be-kannter einige Puzzle-Teilchen (selbst-verständlich aus zwei Metern Distanz). «Rascher zurück zum normalen Leben dank Corona-App», steht darauf, oder: «Schütze dich mit Corona-App». Die Teil-chen machen mir Unbehagen und Angst. Wo führt uns das hin? Ist es verhältnis-mässig? Mein Bekannter, ein IT-Spezialist, teilt meine Bedenken und sagt besorgt, solche Puzzle-Teilchen lägen jetzt überall herum. Noch wage niemand, sie so rich-tig in die Hand zu nehmen, vor allem nicht, wenn ihm andere dabei zusähen. Aber viele würden solche Teilchen schon heimlich zwischen den Fingern herum-drehen. Ich nehme die Puzzle-Teilchen mit nach Hause. Sie passen sofort, aber das Bild wird durch sie düsterer. Irgendwie wünsche ich mir, ich hätte diese Puzzle-Teilchen nie bekommen.
Puzzle-Teilchen-Serie-Nr. 7: Jeremias Gotthelf
Auf der Abklärungsstation lese ich in Nachtschichten, wenn gerade nichts läuft, ein altes Buch: Jeremias Gotthelf. Ich bin überrascht, wie aktuell seine Er-zählungen sind. Damals (vor 200 Jahren) gab es Missernten von Weizen und Kar-toffeln mit Hungersnöten, und gewinn-besessene Menschen horteten ihr Korn, um es so teuer wie möglich verkaufen zu können. So wurden einige reich, während andere hungerten. Wer noch glaubt, die Menschheit würde zum Besseren «evolu-ieren», würde durch einen Blick in die Bücher des Pfarrers und Schriftstellers J. Gotthelf wohl ins Zweifeln kommen. Der Mensch ist im Kern nicht anders ge-worden, und wo Gewinnsucht die Hand im Spiel hat, wird das naheliegende Gute nicht getan (z.B. einfache präventivmedi-zinische Massnahmen, die Leben retten könnten, aber auch einige gewinnver-sprechende Forschungsprojekte weniger rentabel machen könnten). Gotthelf sieht aber nicht nur das Negative; seine Er-zählungen zeigen auch, wie es anders und besser laufen könnte und dass der Mensch vieles nicht selber in der Hand hat. Diese Puzzle-Teilchen, obwohl unge-wohnt altertümlich geformt, passen zu meinem Erstaunen in eine Lücke, die ich bisher nie füllen konnte, und sie verbinden den düsteren Teil des Puzzles mit einem hoffnungsvolleren. Liegt es vielleicht daran, dass Gotthelf seinen Blick erhob, über den Tellerrand des aktuellen Ge-schehens hinaus, und erkannte, dass es in allem Verwirrenden doch eine gute grosse Konstante gibt?