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Lesedauer ca. 10 Min.

Mit Dr. Matthias Wiens, Ärztlicher Leiter Spital Affoltern AG

Interview

Mit Dr. Matthias Wiens, Ärztlicher Leiter Spital Affoltern AG

Wie haben Sie die Corona-Krise bisher ganz persönlich in Ihrem privaten Umfeld wahrgenommen und erlebt?

Synapse: Wie haben Sie die Corona-Krise bisher ganz persönlich in Ihrem privaten Umfeld wahrgenommen und erlebt? Dr. Matthias Wiens: Die Antwort ist viel-schichtig: Die Sorge um das, was da ist und was da kommt, begleitete mich und mein engeres Umfeld eigentlich von  Anfang an, jedoch ohne Angst. Dadurch dass meine Frau, mein Sohn und ich frühzeitig aber sehr leicht erkrankten, entstand in Bezug auf die Krankheit eine grosse Erleichterung. Ich hatte mir ei-gentlich sogar gewünscht, früh zu er-kranken, wobei ich mich immer strikt an alle Anordnungen gehalten habe. Davon ausgehend, dass man nach durchge-machter Krankheit sehr wahrscheinlich immun und nicht ansteckend ist, können wir uns sehr sicher bewegen. Entspre-chend konnten wir nach abgeschlossener Quarantänezeit unsere sehr alten Eltern und Schwiegereltern wieder besuchen. Das war wichtig, denn wir merkten, dass die alten Menschen fast am meisten un-ter der Einsamkeit leiden.

Neben den bekannten Symptomen, von denen mich insbesondere die Anosmie  in der Lebensqualität einschränkte, be-merkte ich einen psychischen Zustand, den ich zwar nicht als depressiv, aber doch als sehr gedämpft bezeichnen würde. Etwas, was ich sonst überhaupt nicht kenne.
Ich fühlte mich in der ganzen Zeit sehr privilegiert, weil ich einerseits meine Quarantäne bei relativ guter Gesundheit in aussergewöhnlich schöner Wohnsitu-ation geniessen konnte, aber auch da-durch, dass ich nach durchgemachter Quarantäne meinem Beruf nachgehen konnte, auch wenn die Arbeit durch die Pandemie-Situation völlig verändert war. Da ich meinen Arbeitsweg grundsätzlich mit dem Velo zurücklege, genoss ich auch hier ein grosses Privileg, täglich 90 oder mehr Minuten draussen sein zu dürfen. Ein etwas mulmiges Gefühl hatte ich vor meiner Rückkehr ins Spital. Wir gingen ja immer noch von einem «Tsu-nami» an Patienten aus. Die wenigsten würden einen Chirurgen benötigen.  Welche Tätigkeiten würde ich ausüben müssen? Würde mein Fachwissen reichen?

Und wie haben Sie die Angst  wahrgenommen? Ich habe in der Anfangszeit in meiner Umgebung sehr viel Angst vor der Erkrankung gespürt. Viele Medien haben gut und verantwortungsvoll berichtet, viele haben aber auch ein Spiel mit der Angst betrieben, immer den Blick auf Auflagen und Einschaltquoten. Es war und ist fast unmöglich, aus den veröffentlichten Pandemiezahlen und den diesbezüglich geführten Diskussionen exakte Schlüsse zu ziehen.
Die wirtschaftliche Bedrohung, die viele Menschen verspüren, war für meine Frau und mich auch präsent, jedoch deutlich weniger existenziell als für viele andere Menschen. Auch wenn die finanzielle  Situation des Spitals Affoltern sehr schwierig ist, so musste ich nicht kurz-fristig Angst um meinen Arbeitsplatz  haben und wusste ich, dass ich im Not- fall auch meine Frau in ihrer Praxis un-terstützen könnte.

Schwierig empfand und empfinde ich die Situation für wieder gesundete Men-schen nach Covid-19-Erkrankung. Wohl wegen noch nicht wissenschaftlich fun-dierter Aussagen über Immunität und Infektiosität bekommen diese Menschen kaum Hinweise, was sie nun dürfen oder allenfalls auch nicht. Ich denke aber, dass diese Gruppe eine sehr wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen sollte, insbe-sondere was die Hoffnung für andere Menschen angeht.

Ganz besonders besorgniserregend emp-fand ich die Situation ausserhalb der Schweiz, ausserhalb Europas. Die Szena-rien, die für die Dritte Welt hinsichtlich dieser Pandemie, aber auch im Hinblick auf die Folgen des wirtschaftlichen Zu-sammenbruchs in der Ersten Welt ge-zeichnet wurden, sind erschreckend. Die Gefahr, dass der wirtschaftliche Nieder-gang oder auch die direkten Folgen der Pandemie zu Hunger, Krieg und Elend,  damit auch zu neuen Flüchtlingsströmen führen  werden, ist beängstigend. Das war für mich eigentlich der einzige Augen-blick, in dem ich begann, an den sehr strengen Massnahmen des Lockdowns zu zweifeln, ohne sie jedoch wirklich in Frage zu  stellen.

Man wundert sich schon, wenn man die Statistiken der Sterberaten durch HIV  anschaut, dass die Welt, die sich jetzt  so um Corona kümmert, über 1 Million HIV-Tote pro Jahr akzeptiert, nur weil  das Sterben in «unwichtigen Ländern» stattfindet. Diese Sterberate wird in- folge der Pandemie nochmals anstei- gen.

Und wie haben Sie die Krise im beruflichen Umfeld erlebt? Mit dem Lockdown im März wurde eine Situation geschaffen, mit der kaum je-mand vorher gerechnet hatte. Innert kür-zester Zeit wurde das Spital interprofes-sionell völlig umorganisiert, was ein sehr komplexer Vorgang ist. Prozesse und Be-trieb wurden auf einen massiven Patien-tenansturm eingestellt. Die Bettenkapa-zität wurde erhöht und hätte bei Bedarf verdoppelt werden können. Es war eine spezielle Stimmung im Betrieb, quasi die Ruhe vor dem Sturm; alle kannten die Be-richte aus Norditalien und dem Tessin. Viele hatten ein mulmiges Gefühl, denn es kamen immer mehr Berichte von To-desfällen unter dem Spitalpersonal in Italien. Es folgte das lange Warten, aber letztendlich kam die erwartete Tsunami-welle nicht. Tragisch ist, dass durch den fehlenden Patientenansturm und den Stopp für alle planbaren Therapien und Eingriffe die Spitäler sich nun in einem massiven Liquiditätsproblem befinden und im Moment noch unklar ist, wer für dieses Defizit aufkommt (Situation im Kanton Zürich). 

Welche Zwischenbilanz ziehen Sie (Anfang Mai) als ärztlicher Leiter des Spitals Affoltern bezüglich der Corona-Krise? Was hat gut funktioniert, was weniger? Es ist eine sehr dynamische Zeit. In Spit-zenzeiten – es ist aktuell etwas ruhiger geworden – kamen mehrmals pro Woche von der Gesundheitsdirektion oder vom Bund Anweisungen, die zeitnah umge-setzt werden mussten. Teilweise wurden Anweisungen widerrufen, die erst am Vortag gegeben wurden. Die Verwirrung war gross. Besonders auf der Chirurgie war tageweise sehr wenig zu tun, je nachdem, wie viele Notfälle zu operieren waren. Wenig Arbeit ist für viele Men-schen fast schwieriger zu ertragen, als sehr viel zu tun zu haben.

Speziell ist, dass anfänglich sehr wenig Wissen über Covid-19 bestand respektive besteht, aber täglich neue Erkenntnisse hinzukommen. Gut funktionierte die  regionale Koordination mit den anderen sozialen Einrichtungen und Gesund-heitsinstitutionen, ganz besonders zu-sammen mit unseren Hausärzten; da-durch konnte auch der anfängliche Materialmangel, z.B. an Masken, gut ab-gefangen werden, da man sich gegen-seitig aushalf. Ebenfalls wurden Fach-wissen und Konzepte ausgetauscht. Dies hat das eh schon starke Netzwerk im  Bezirk Affoltern nochmals wesentlich  gestärkt. 

Sehr interessant für mich war ein Bericht der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, in der Zahlen bekannt gegeben wurden, dass die Anzahl von chirurgischen Er-krankungen im Bauchraum wie Appen-dizitis, Cholezystitis oder Divertikulitis im Zeitraum des Lockdowns deutlich abge-nommen hatten, ohne dass man dafür eine Erklärung finden konnte. Ein Teil dieses Rückgangs wäre vielleicht damit zu erklären, dass die Patienten nicht mehr ins Spital gekommen sind. Der an-dere Teil ist aber nicht zu erklären. Ob dies mit der veränderten Lebenssituation zu tun hat, z.B. mit Veränderungen bei den Stressoren, ist offen.

Kam das Spital Affoltern wegen der Corona-Pandemie an seine Kapazitätsgrenzen? Nein. Lediglich unsere geriatrische und die Palliativ-Abteilung waren sehr voll,  da sie von den Zentrumsspitälern aus der Umgebung recht viele Patienten übernehmen mussten. Die zusätzlich ge-schaffenen Bettenkapazitäten im Haus wurden nie ausgenutzt.

Wie viele Corona-Patienten hatten  oder haben Sie? Sind bei Ihnen Corona-Patienten gestorben? Zwei aktuelle Fälle, insgesamt 115 statio-näre Behandlungen, acht Todesfälle. Da wir über eine sehr grosse geriatrische  Abteilung verfügen, sind bei uns über-durchschnittlich viele Patienten an Co-vid-19 gestorben.

Wir sind ein Covid-C-Spital, d.h., wir be-handeln keine intubationspflichtigen Co-vid-Patienten. Patienten, bei denen sich eine Intubation abzeichnet, werden in ein Zentrumsspital verlegt. Wir behan-deln vor allem Covid-Patienten, die sich bei einer respiratorischen Verschlechte-rung klar gegen eine Intensivstation und gegen eine künstliche Beatmung ent-schieden haben, aber ein palliatives Vor-gehen mit einer guten Symptomkon-trolle wünschen; d.h., dass sie z.B. keine Atemnot, keine Schmerzen und keine Angst haben müssen. Dadurch konnten wir verhindern, dass alte, zum Teil poly-morbide Pa tienten ohne Notwendigkeit auf Intensivstationen verlegt werden mussten.

Wie beurteilen Sie die «Bewältigungs-strategie» der Behörden (Bundesrat, Kantone) im Kampf gegen die Corona-Pandemie? Wie es aussieht, war es ein weltweites Problem, dass die Prognosen hinsichtlich einer zu erwartenden Pandemie nicht ernst genommen wurden. Dementspre-chend muss man den Verantwortlichen in Bund und Kantonen den Vorwurf  machen, die Warnungen nicht ernst ge-nug genommen und entsprechende  Vorbereitungen getroffen zu haben. Es war für uns im Gesundheitswesen Täti-gen nicht nachvollziehbar, weshalb es so lange gedauert hat, ausreichend Schutz-materialien und Desinfektionsmittel zu bekommen. Dass mit fortschreitender Pandemie harte und recht gut durchor-ganisierte Massnahmen durchgeführt wurden, war hinsichtlich der völligen Un-klarheit über das, was da kam, sicherlich richtig. Auch die Einschränkung gewisser Freiheiten musste so durchgeführt und hingenommen werden. Niemand konnte wirklich voraussagen, was auf uns zu-kommt. Unterlassene Einschränkungen hätten zu weit schwerwiegenderen Fol-gen führen können. Die jetzt aufkom-menden Diskussionen, was man hätte anders machen sollen, sind vielleicht sinnvoll für eine zweite Welle oder künf-tige Pandemien, helfen rückwirkend je-doch wenig. 

Es war voraussehbar, dass die Locke-rungsmassnahmen weitaus schwieriger und zu Diskussionen führen werden würden. Ich bin der Meinung, dass auch hier sehr vorsichtiges Handeln geboten ist und dass eine zweite Infektionswelle wahrscheinlich wesentlich schwerwie-gendere Folgen hätte, als dies die erste schon hatte.

Was lernen Sie aus der Corona-Krise für die Zukunft (im Hinblick auf künftige Epidemien/Pandemien)? Man muss die jetzige Situation sehr ge-nau analysieren, um sich auf zukünftige Pandemien vorbereiten zu können, denn es wird wohl kaum die letzte gewesen sein. Ein Problem ist, dass wir nicht wis-sen, wann sie kommt. Dauert es zu lange, könnte Leichtsinn das Zepter überneh-men. 

Ich ärgere mich über die Neunmalklu-gen, die jetzt behaupten, dass viele Mass-nahmen unnötig gewesen seien und man mit weniger Einschränkungen ge-nau das Gleiche erreicht hätte. Man kann doch die Therapeuten nicht für  unnötig halten, gerade weil die Therapie funktio-niert hat. Erst wenn die Welt bevölkerung durchimmunisiert ist (am schnellsten und besten durch Impfungen), werden wir vielleicht annähernd  sagen können, was richtig, was falsch war. 

Die Impfung, wenn es sie denn einmal gibt, sollte aus meiner Sicht zur Pflichtimpfung gemacht werden. Die Re-gierenden und Gesundheitsökonomen sollten sich gut überlegen, wie weit die Ökonomisierung der Medizin und darin inbegriffen Bettenschliessungen noch gehen sollten, welche Ausrüstungsvor-räte man auf Lager haben sollte und ob man wichtige Medikamente wirklich ausschliesslich dort produzieren lassen sollte, wo es am billigsten ist. 

Dr. med. Matthias Wiens  
Dr. med. Matthias Wiens ist seit 2005 Chefarzt Chirurgie und Ärztlicher Leiter des Spitals Affoltern AG (ZH).  Er ist in Deutschland aufgewachsen, hat in Berlin studiert und dort die ersten Jahre seiner Chirurgieausbildung am Universitätsklinikum Rudolf Virchow absolviert. Danach zog er mit seiner Schweizer Frau und seinen zwei Kindern in die Schweiz.