Corona 4
Umdenken und Verantwortung übernehmen
Nach der Pensionierung meinte ich auf eine ruhigere dritte Lebensphase hinzusteuern.
Nach der Pensionierung meinte ich auf eine ruhigere dritte Lebensphase hinzusteuern. Ich freute mich auf die Freiheit, endlich nicht mehr zu müssen, sondern einfach nur noch zu dürfen. Endlich hatte ich Zeit. Es gab ja so vieles, das in den vergangenen Jahren warten musste, für das ich keine Zeit fand. Meine Tage waren zwar immer spannend, aber auch immer mehr als ausgefüllt. Ich habe meine Aufgabe geliebt. Aber jetzt: herr-lich, keinen Termindruck mehr zu haben und nichts (oder fast nichts) mehr zu müssen, sondern nur noch zu dürfen. In Ruhe Zeitung lesen, meine Katzen krau-len, etwas Sport treiben, im Garten arbei-ten, Zeit für meine Enkel und für mich haben. Einfach paradiesisch.
Dabei half mir natürlich eins: Mein ur-sprünglicher Berufswunsch war, Bauer zu werden, was aber für den Sohn eines Bauernknechtes und einer Bauerntoch-ter, deren Bruder den elterlichen Hof übernahm, absolut unrealistisch war …Aber nun kam Corona. Was ist das? Man sprach von Sars, von der Schweine- und Vogelgrippe, von Ebola, von Isolation, Ausgangssperre usw. Bei uns? Sicher nicht. Überall, aber sicher nicht bei uns in der Schweiz.
Weit gefehlt! Plötzlich sassen wir mitten-drin. Plötzlich war die Pressekonferenz des Bundesrates, jeweils am Nachmittag um 14 Uhr, der wichtigste Termin des Tages. Alte Leute über 65 Jahre gehören zur Risikogruppe. Die sollen daheimblei-ben, sollen sich so organisieren, dass sie nicht unter die Leute müssen. Sie sollen schauen, dass jemand für sie einkaufen geht. Sie sollen ihre Familienangehöri gen ausserhalb des eigenen Haushalts nicht mehr sehen, vor allem keine Gross-kinder mehr hüten. Die Schulen wurden geschlossen.
Wir schalteten schnell: Vier meiner sechs Enkel, die gleich nebenan wohnen, er-klärten, dass sie den Kontakt zu ihren Schulkollegen jetzt nicht bräuchten, dass sie lieber zu mir kämen. Meine Tochter bestimmte, dass sie oder ihr Mann nun für uns einkaufen würden, dass wir zu Hause zu bleiben hätten …
Ein Paradies für mich. Ich hatte mich in weiser Voraussicht mit Gartenmaterial eingedeckt und konnte nun ungehin-dert und in Ruhe alle Arbeiten ausfüh-ren, die während Jahren liegen geblie-ben waren oder die ich einfach eilig so «hingejufelt» hatte. Dann Zeit zum Le-sen usw. …
Aber: So einfach ist es nicht. Was gibt es zu lesen? Was gibt es in Radio und Fern-sehen? Ich kann im Moment kein Buch lesen. Die Entwicklung in der Welt lässt mich nicht los. Zum einen bin ich sehr froh, dass ich die Verantwortung für mein Unternehmen abgegeben habe. Ich weiss nicht, wie man jetzt mit einem Un-ternehmen wirtschaftlich überlebt, wie man mit der Kurzarbeit, mit geschlosse-nen Firmen, Restaurants, Geschäften und fehlenden Absatzwegen umgeht. Zum andern gehen meine Gedanken zu mei-nen Nachfolgern, zu allen, die noch mit-ten im Erwerbsleben stehen und teil-weise wohl ebenso wenig wissen, wie es weitergeht. Dabei verspüre ich auch grosse Macht- und Hilflosigkeit. Unsere Medizin, die so aktiv und selbstbewusst auftrat, hat keine Lösungen. Ich war es gewohnt, über Jahre, ja Jahrzehnte hin-zustehen, wenn Probleme auftraten, diese anzupacken und zu lösen. Meine starke Gesundheit, mein Körper hat mich nie im Stich gelassen. Zur Not reichten auch zwei Stunden Schlaf. Aber jetzt, 67-jährig, trotz bester Gesundheit, ge-höre ich in die Risikogruppe, habe zu Hause zu bleiben, und wenn ich mich nicht daran halte, bin ich einer der unbe-lehrbaren, dickköpfigen Alten, die durch ihre Sturheit allenfalls einen Jüngeren anstecken oder ihm den Beatmungsplatz in der IPS streitig machen …
Ich bin überzeugt, unsere Welt wird eine andere werden. Vor kurzem hätte ich noch geschrieben, sie muss nach Corona eine andere werden. Heute schreibe ich, die Welt muss während Corona eine an dere werden. Denn so schnell wird nicht «Nach-Corona» sein.
Dabei hoffe ich, dass wir Menschen mit der Erfahrung des Corona-Schocks im Gepäck in die richtige Richtung gehen. Sicher wird die Medizin Lösungen für Corona finden. In ein, zwei oder vielleicht auch drei Jahren wird eine Impfung, werden Medikamente zur Behandlung der Krankheit zur Verfügung stehen. Aber neue Krankheiten werden kommen. Denken wir nur an die vielen resistenten Keime, die wir züchten. An die ganzen Probleme mit giftigen Rückständen im Trinkwasser, mit der Luftverschmutzung und der Klimaerwärmung. Ich denke aber auch an unsere Gesellschaft. An immer mehr Menschen, welche in ir-gendwelchen sozialen oder wirtschaft-lichen Randgruppen leben. Ich hoffe sehr, dass Corona eine nachhaltige positive Wirkung auf unsere Gesellschaft hat, die uns zu etwas mehr Ruhe, Rücksicht und zu weniger bedenkenlosem Konsu-mieren führen wird. Wir tragen die Ver-antwortung gegenüber den nächsten Generationen, dass wir ihnen eine «le-benswerte Welt» hinterlassen. Damit meine ich konkret:
• Die Digitalisierung wird einen Riesen-schub erhalten. Hoffentlich sind wir Menschen in der Lage, die Wärme, die wir mindestens am Anfang dieser Aus-nahmesituation mit Corona spürten, zu konservieren und in die «Nach- Corona-Welt» mitzunehmen. Auch oder vor allem für unsere Kinder und Grosskinder. Was wir da an Zusammen-gehörigkeit und gemeinsamer Verant-wortung zelebrierten, war grossartig.
• Es ist unehrlich und verlogen, wenn wir im Zusammenhang mit der Glo-balisierung immer von Win-win-Situ-ation sprechen. So, wie wir die Globa-lisierung vorantreiben, werden wenige Reiche auf Kosten der Ärmsten noch reicher, während die Ärmsten ärmer werden und wir mit unserem Verhal-ten ihre Umwelt zerstören. Denken wir nur an die Bilder, die wir kürzlich aus Indien gesehen haben, an die Wander-arbeiter in China, an die Menschen in den Slums von Südafrika, an die Nä-herinnen in Bangladesch, an die Bur-mesen, die nun plötzlich in Thailands Ferienparadiesen zum Vorschein kom-men, oder fast ebenso schlimm oder schlimmer, weil so nahe, an die Men-schenschlangen von Bedürftigen, die in Genf auf die Verteilung von Essen war-ten. Diese Verantwortung müssen wir übernehmen, wahrnehmen und mit unserem Verhalten etwas verändern.
Es ist unverantwortlich, am Wochen-ende für ein paar Franken mit dem Bil-ligflieger für ein Mittagessen, einen Konzert- oder Partybesuch nach Mal-lorca, Nizza, Barcelona oder Hamburg zu fliegen und damit aktiv an der Zer-störung unserer Umwelt mitzuarbei-ten.
Das sind nur drei plakative Beispiele, sicher könnte man diese noch problem-los um viele Punkte erweitern. Wir (un-sere Gesellschaft) müssen unser Ver-halten überdenken und verändern. Es braucht wieder andere Werte als wirt-schaftlichen Erfolg und Optimierung des Gewinns auf dem Buckel der Ärmsten. Für uns alle gilt es, Verantwortung zu übernehmen für die Schwächeren, für Menschen und Umwelt. Vielleicht auch müssen wir liebgewonnene Gewohn-heiten verändern.
Wenn wir diese Corona-Pandemie in den Griff bekommen, wenn diese Katastro-phe für die Menschen unserer ganzen Welt vorüber ist und wenn wir daraus etwas lernen, haben die vielen Toten, welche wir beklagen müssen, haben die unzähligen Opfer und Überstunden, die von verantwortungsbewussten Ärztin-nen, Ärzten, Pflegenden, aber auch in der Politik und in öffentlichen Ämtern er-bracht wurden, vielleicht einen Sinn ge-habt. Man darf ja hoffen und auch etwas blauäugig sein.
Zum Abschluss möchte ich auch unserer Regierung und ihren Experten ein Kränz-chen winden. Wie professionell und mit wie viel Feingefühl und Kompetenz sie diese Krise gemanagt haben, ist be-merkenswert. Wir haben ein politisches System, über das wir in guten Zeiten am Wirtshaustisch viele schimpfen hören. Aber in der Krise haben unsere verant-wortlichen Leute Grösse gezeigt und ausgezeichnete Arbeit geleistet. Sicher wurden auch Entscheide gefällt, die dis-kutabel sind. Leider müssen die Parteien und Verbände nun schon wieder alles ausschlachten, um sich zu profilieren. Aber ich glaube, man darf sagen, das System hat sich bewährt.
Man wird zum Weltverbesserer, vielleicht auch zum unbelehrbaren Optimisten. Aber Optimismus ist in unserer nicht einfachen Welt wohl weiterhin wichtig. Bleiben wir optimistisch. «S chunnt scho guet!»